Zu einigen Zeichnungen von Johannes Beyerle

 

November 2001

Peter Bürger

Kürzlich ist mir eine dickleibige Publikation in die Hände geraten: Art at the turn of the Millennium. Die einzelnen Positionen, alphabetisch geordnet, werden in kurzen Texten angepriesen, wobei das bloße Faktum, dass ein Autor so verfährt, wie er verfährt, sich in eine Leistung verwandelt, die unsere Bewunderung herbeizwingen soll. Gelangweilt blättert man in dem Band wie in einem Warenhauskatalog. Fast nichts, was durch Intensität den Blick fesselte, alles groß, bunt und schreiend. Die Botschaft lautet immer wieder: Ich, Ich, Ich. Man legt den Band aus der Hand und fragt sich: Ist das wirklich die Kunst unserer Gegenwart? Könnte es nicht sein, dass trotz der gar nicht mehr überblickbaren Zahl von Ausstellungen, Messen und Museen für Gegenwartskunst wir die Kunst unserer Zeit gar nicht sehen? Dass sie anderswo gemacht wird, im Verborgenen?

Ich habe Johannes Beyerle zufällig anlässlich eines Besuchs im Hause von Jürgen Brodwolf in Kandern kennen gelernt, wo der junge Zeichner ein Atelier hat. Bei Tisch – wir versuchen uns über die Zeitläufe zu verständigen – ist er eher schweigsam. Aber als wir dann in sein Atelier gehen, um uns Sachen von ihm anzusehen, spricht er sehr präzise über seine Arbeit.

Johannes Beyerle zeichnet nicht einfach, was sich gerade seinem Blick darbietet, sondern es bedarf offenbar einer Art Initialzündung, damit etwas für ihn überhaupt zum Motiv werden kann. 1998 stößt er auf die Abbildung eines alten Stichs aus dem 16. Jahrhundert, auf dem zwei Szenen einer Wolfsjagd zu sehen sind: eine Wolfsgrube, in der man das Tier gefangen und einen Galgen, an dem man den Wolf in Menschenkleidern aufgehängt hat. Seit dieser Entdeckung hat ihn zwei Jahre lang das Thema nicht losgelassen. Er ist solange in den Wäldern in der Umgebung von Kandern umhergestreift, bis er alte Wolfsgruben gefunden hat. Er hat sich in die Grube gehockt, so dem Schrecken des gefangenen Tieres nachspürend. Er hat Wolfsköpfe aus Lehm und Stroh geformt, sie mit Teer geschwärzt und mit seinen eigenen Kleidern behängt. Und er hat dieses Unwesen an einem Draht hinter sich her durch die Wälder gezogen, sich so in einen Zustand mimetischer Einheit mit dem Motiv versetzend, um danach zeichnen zu können.

Vor mir liegen drei Blätter aus dem Jahr 1999: Wolfsgalgen.
In dem ersten ist noch eine flache Landschaft angedeutet, vorn rechts mit starken Schwärzen markiert die Wolfsgrube, links der hängende Wolf, dicht dahinter eine unbestimmbare Figur, Mensch oder Felsen. Auf den beiden anderen Blättern scheint sich die Landschaft zu verflüchtigen, nur das Schwarz der Grube bleibt stets erkennbar und die Vertikale des gehängten Tieres. Auf dem dritten Blatt glaubt man hinter dem Wolf diesmal deutlicher eine menschliche Gestalt ausmachen zu können, die mit einigen Linien mit dem Tier verbunden zu sein scheint.

Selbstverständlich kann der durch die Moderne geschulte Betrachter sich ganz auf das Zusammenspiel zarter grauer und tiefschwarzer Linien, die grauen Verwischungen und schwarzen Flächigkeiten sowie auf den Gegensatz von Horizontale und Vertikale konzentrieren. Aber dabei entginge ihm etwas von der eigentümlichen Intensität dieser Blätter, die gleichsam zwischen dem Strich und dem Motiv angesiedelt ist. Sie sagen etwas über den Abgrund im Menschen, der das Tier in sich verleugnet, um es dann doch als moralisch böses Wesen zu richten.

Zwei Blätter ohne Titel aus dem Jahre 2001 variieren das Motiv. Eine Hälfte ist jeweils eingenommen von den horizontalen Schwärzen einer Landschaft, die entfernt an die Wolfsgrube der ersten Serie erinnert, die andere von einer angedeuteten schreitenden (weiblichen) Gestalt, die die Stelle des Wolfs einnimmt. Legt man die beiden Serien nebeneinander, so entsteht eine Irritation, die widersprechende Deutungen provoziert: Wenn die Frau die Stelle des Wolfs einnimmt, hat sich dann das Objekt der Beängstigung in eines der Anziehung verwandelt? Oder weist die unterschiedliche Besetzung derselben Stelle im Bild auf die Kontinuität in der Unterdrückungsgeschichte der Natur hin? Das Schreiten der weiblichen Gestalt wäre dann ein Zeichen der Hoffnung, dass es ein Entkommen gibt.

Im gleichen Jahr wendet sich Johannes Beyerle einem anderen Motiv zu, Steinbruch.
Die Blätter nehmen den Gegensatz von Vertikale und Horizontale wieder auf. Am Boden liegen einige, vielleicht behauene Blöcke, nur mit zarten Strichen angedeutet, darüber erhebt sich, steil aufragend, ein Felsen, der etwa in der Mitte von einer deutlich markierten Spalte durchschnitten wird. Ein Steinbruch? Nichts als ein Steinbruch? – Von den drei Blättern geht, je länger man sie betrachtet, etwas Unheim-liches aus. Die Form des Felsens erinnert an einen überdehnten Kopf. Besonders auf einem Blatt glaubt der Betrachter in der Spalte die Pupille eines Auges zu erkennen. Mensch und Natur scheinen ineinander überzugehen. Eine unbestimmte Bedrohung geht von dem Ort aus. Der Betrachter ahnt, dass die Blätter etwas verbergen, aber er kann es nur erahnen. Erst wenn er erfahren hat, was hinter dem Motiv steht, erschließen sich ihm die Blätter ganz.

Es ist die Geschichte eines polnischen Zwangsarbeiters, der während des Zweiten Weltkrieges in Kandern arbeitet, sich in eine junge Deutsche verliebt, von Anwohnern der Gärtnerei, in der er tätig ist, denunziert, daraufhin verurteilt und hingerichtet wird – im Steinbruch. Johannes Beyerle – der junge Pole dürfte ungefähr so alt gewesen sein, wie er jetzt ist – sucht nach Spuren des Geschehens, aber man spricht nicht gern darüber in Kandern. Die meisten noch lebenden Zeitzeugen erinnern sich an nichts oder wollen sich nicht erinnern. Johannes Beyerle forscht weiter und trifft schließlich nach vielen vergeblichen Bemühungen – auch die Akten auf dem Einwohnermeldeamt sind nicht auffindbar – auf eine alte Frau im Altersheim, die bereitwillig Auskunft gibt, gern über den schönen Polen spricht und sogar noch ein Foto von ihm aus ihren Kartons hervorsucht. Von ihr erfährt er auch, dass die NS-Behörden die polnischen Arbeiter des Städtchens gezwungen haben, die Exekution ihres Landsmannes durchzuführen.

Mancher mag sich fragen, was das alles mit den Zeichnungen zu tun habe, schließlich stelle der Künstler doch weder den Zug der polnischen Arbeiter durch die Stadt, noch die Exekution im Steinbruch dar; damit entfalle aber die Möglichkeit einer ikonografischen Deutung der Blätter. Das ist zutreffend; und doch besteht zwischen ihnen und der Geschichte des polnischen Zwangsarbeiters ein Bezug, der freilich prekärer ist als das uns vertraute Verhältnis abbildender Wiedergabe.
Johannes Beyerle will weder die Geschichte des jungen Polen illustrieren, noch die Wege und Umwege seiner Recherche dokumentieren. Seine Absicht ist eine andere: Er will den Schrecken unserer jüngsten Vergangenheit evozieren, ohne irgendwelche Zeichen des Schreckens ins Bild zu setzen. Seine Recherchen und die vielen im Steinbruch verbrachten Stunden dienen einzig dem Aufbau jener Energie, die sich dann in der Zeichnung entlädt. Ob die Übertragung gelingt, lässt sich nie im Voraus sagen, bleibt aber auch im Nachhinein in der Schwebe. Denn um die Steinbruch-Zeichnungen zu sehen, mit allem, was sie andeuten, muss der Betrachter die Geschichte kennen, die hinter ihnen steht. Sie leben von Voraussetzungen, die in sie eingehen, ohne sichtbare Gestalt zu gewinnen, kurz: sie sind auf eine sehr eigene Weise literarisch.
Nun war aber einer der stärksten Impulse der Moderne die Besinnung auf die spezifischen Gestaltungsmittel jeder Kunst. Die Malerei sollte nichts als Malerei sein, dementsprechend verpönt war alles Literarische. Es erschien als Beimischung eines Fremden, das es unbedingt zu vermeiden galt. Dass dieser Purismus jedoch nicht leicht zu verwirklichen ist, zeigte sich vielleicht am deutlichsten in der von Arnold Gehlen hervorgehobenen Abhängigkeit der gegenstandlosen Bilder von den sie begleitenden Kommentaren. Man muss das nicht als eine künstlerische Schwäche dieser Bilder ansehen, wohl aber wird daran deutlich, dass Bilder keineswegs Gegenstände reiner Seherfahrung, dass sie vielmehr in Diskurse verwoben sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich um gegenstandslose oder um gegenständliche Bilder handelt. Ja man könnte sogar behaupten, dass die Rede über Kunst die Werke allererst zu dem macht, was sie für uns sind. Wir mögen uns noch so sehr gegen den Biografismus sträuben und versichern, was uns an einem Künstler interessiere, seien einzig dessen Arbeiten, nicht sein Leben, trotzdem können wir, wenn wir Van Goghs knorrige, wie gequält wirkende Ölbäume sehen, nicht umhin, an die Wahnsinnsanfälle zu denken, an denen er litt. Das Pathos dieser Bilder ist für uns nicht abtrennbar von dem Wissen um die Bedingungen, unter denen sie entstanden sind.Für die Arbeiten von Johannes Beyerle gilt etwas Ähnliches. Wie Van Gogh sich der Sommerhitze der Provence aussetzt, um die in gleißende Helligkeit getauchten Kornfelder malen zu können, verbringt Beyerle Stunden im Steinbruch bei Kandern, bis der Ort und das an ihm Geschehene für ihn zur Einheit werden, die er dann in der Zeichnung festhalten kann. Diese wäre gelungen, wenn sie eine Spur des Grauens enthielte, die die polnischen Arbeiter erfasste, als sie ihren Landsmann töteten, ein Grauen, von dem die Steine nichts enthalten. – In den Arbeiten von Johannes Beyerle kündigt sich etwas an, worauf man seit langem wartet: das Ende der Beliebigkeit. Notwendig sind diese Blätter im doppelten Sinn: subjektiv für den Autor, weil er sie machen muss, objektiv, weil sie das Semantische zurückholen ins Bild und dabei doch der Abstraktion die Treue halten.